von Michael Götting
Die Fotografin Iwajla Klinke ist fasziniert von Traditionen, die seit Jahrhunderten bestehen. Ihre Bilder geben dem Mythischen Raum im modernen Alltag.
Es ist ein alter sorbischer Brauch, den man in einigen Dörfern der Lausitz noch beobachten kann. Ein Mädchen, das kurz vor der Einschulung steht, wird für den Umzug der Vogelhochzeit zurecht gemacht. Zwei ältere Frauen in einem Klassenzimmer sind damit beschäftigt, einer Fünfjährigen die Haare zu flechten. Sie ziehen ihr ein Kleid an, schmücken sie. Nach ein bis zwei Stunden wird aus der Fünfjährigen eine kindliche Königin des 18. Jahrhunderts. Momente dieser Art sind es, die die Berliner Fotografin Iwajla Klinke faszinieren: die Gegenwart Jahrhunderte alter Rituale im heutigen Alltag.
Klinke sitzt auf einem breiten Sofa in einem Café in Berlin Kreuzberg. Die 34-Jährige beugt sich über ein Laptop, das vor ihr auf dem Tisch steht: Fotos von Mädchen in Trachten, deren Häupter aufwändig gearbeitete Kronen schmücken, Jungs in Fechtanzügen und American-Football-Ausrüstung. Diese Arbeiten sind Teil ihrer ersten großen Einzelausstellung Kronen und Gladiolen , die ab 5. November in der Berliner Suvi Lehtinen Galerie zu sehen ist.
“Die ursprüngliche Idee war, etwas über Rituale und Kinder zu machen”, sagt sie. Auf der Suche nach alten Bräuchen hat sich Klinke in die kleinen Dörfer der Lausitz, in den Schwarzwald, nach Norddeutschland und nach Rumänien begeben. Sie hat die sorbische Weihnachtstradition der Bescherkinder und die Vogelhochzeit fotografiert, die Kirchweih im rumänischen Banat und eine Blütenkönigin im Alten Land bei Hamburg.
Die Vorbereitung auf diese Reisen sind für sie ein kleines Ritual. Die Vorfreude, das frühe Aufstehen am Morgen, die Fahrt mit dem Zug helfen ihr, sich auf die Orte, die Festlichkeiten, die Menschen und den Augenblick des Fotografierens einzulassen. “Ich muss da richtig ankommen”, sagt Klinke, “ich gehe vor Ort spazieren, gehe essen, mache nach den Aufnahmen oft so etwas wie eine kleine Feier für mich allein”.
Ihre Ausrüstung ist schlicht. Eine digitale Spiegelreflexkamera und ein dunkles Tuch für den Hintergrund. Als Studio dienen ihr eine Turnhalle, ein Umkleideraum oder das Foyer des Rathauses. Sie arbeitet nur mit Tageslicht. Ihre Bilder retuschiert sie nicht.
Für Kronen und Gladiolen hat sich Klinke, die in Greifswald geboren ist und in Berlin Kunstgeschichte studierte, von der Porträtmalerei der Renaissance inspirieren lassen und von Postkarten, die Bilder aus den frühen Tagen der Fotografie zeigen. Die Protagonisten ihrer Bilder wirken, als seien sie gerade aus dem dunklen Hintergrund herausgetreten. Das seitlich einfallende Licht bringt die Details ihrer Trachten zur Geltung: die filigran bestickten Stoffe, die Schleifchen, Glasperlen, den Häkelschmuck. Die Galerie Lehtinen beschreibt die Mädchen in Trachten als orthodoxe Prinzessinnen des Alltags. Die jungen Fechter mit ihren Degen und Anzügen werden zu magischen Rittern der Gegenwart, die Jungen in der American-Football-Ausrüstung zu mythischen Wesen, die einer Märchenwelt entsprungen sind.
Das Stumme und doch Beredte, das von den Bildern ausgeht, macht den besonderen Reiz der Fotografien aus. Kindergesichter, die den Betrachter aus unserer Zeit heraus anschauen, als würden sie ins Jenseitige blicken, in eine Welt des Magischen. Vielleicht ein Blick, der sich noch einmal zurückgewandt hat, bevor sie in jene Welt entschwinden; der für den Betrachter die Frage bereithält, ob man sich ihnen anschließen möchte.
“Die Kinder lächeln oft, wenn ich sie fotografieren will, weil sie es so gelernt haben. Ich sage ihnen dann, dass sie das bei mir nicht machen müssen”, sagt Klinke. “Manchmal dauert es nur fünf Minuten, manchmal eine Stunde, bis wir in der Situation ankommen”.
In der Situation ankommen bedeutet für die Fotografin, das Gefühl zu haben, von dem Augenblick ergriffen zu sein. Sie vergleicht es mit dem Eindruck, den die Statuen von Erzengeln in der Kirche auf sie machen. Klinke ist fasziniert von der Präsenz des Heiligen. Sie fotografiert Kinder, weil diese den Glauben an die Existenz mythischer Welten noch nicht verloren hätten. “Die Kinder haben das Wissen über die Tradition nicht, aber sie spüren aufgrund der Rituale, dass etwas Besonderes, etwas Heiliges geschieht”.
Iwajla Klinke arbeitete als Filmemacherin, bevor sie vor vier Jahren zu fotografieren begann. “Fotografieren ist eine intensive Form des Austausches, der Kommunikation. Es ermöglicht einem, den Augenblick zu intensivieren. Für mich”, sagt sie “war es auch eine Erlösung von Sprache”.
Zeit Online
http://www.zeit.de/kultur/kunst/2011-11/Kronen-und-gladiolen